Das überzeugende Neue

Im Gegensatz zu Affen lernen wir bereits früh in unserer Kindheit zu helfen, zu teilen und zu  informieren. Daraus entwickeln sich komplexe kognitive Fähigkeiten, die für Innovation, Überzeugungsleistung und Kooperation notwendig sind.
Wer kreiert und überzeugt, gilt als Alphatier unserer Gesellschaft.
Frank Duerr sucht nach dem Alleinstellungsmerkmal des Menschen und findet es in der Kombination aus Kreativität und Rhetorik.

von Frank Duerr

Erstveröffentlichung in Faktor14 Ausgabe 8


Gedränge, Schweiß, Geschrei. Überall stehen, drücken und warten Menschen. Hunderte werden von Sicherheitsbeamten in die Schranken verwiesen. Über allen Anwesenden leuchtet im Neonlicht ein angebissener Apfel. Seit Stunden harren Jung und Alt aus und hoffen auf Einlass. Die Wartenden fotografieren den Laden von außen nach innen, Angestellte fotografieren von innen nach außen. Natürlich mit einem Smartphone von Apple, denn so ein iPhone ist ein spannendes Produkt. Bevor überhaupt der Kauf des neuen Modells möglich ist, kursieren bereits Gerüchte, Fake-Bilder, Interviews mit Insidern und Meinungsbilder von Interessierten, die aktuelle Entwicklungsgerüchte kommentieren. Der Hersteller Apple mischt dabei kräftig mit: er streut Gerüchte, dementiert oder zementiert sie.


INFO: Rhetorik

Unter Rhetorik versteht man das strategische Kommunikationsverhalten des Menschen, das auf Überzeugung ausgerichtet ist. Dabei ist rhetorisches Handeln stets ein kommunikativer Akt, der ohne Manipulation oder Gewalt-anwendung auskommt. Der mentale Wechsel kann durch Argumente, Topoi, Image, Stil oder Affekte über alle verfügbaren Medien herbeigeführt werden. Diese Phänomene werden an der Universität Tübingen im Seminar für Allgemeine Rhetorik untersucht.


Vor dem Frankfurter Apple-Store liegt der Hauch des Kreativen und Magischen in der Luft. Das neue Gerät verspricht, anders als alle anderen zuvor zu sein. „Das dünnste, leichteste und

schnellste iPhone aller Zeiten“ so der Titel der aktuellen Webseite. Das Neue hat seinen Reiz.
Das Neue begeistert. Schaut man sich einzelne Erfolgsbeispiele an und versucht zu verstehen, wie diese Ideen zu Produkten und im Anschluss daran zu Erfolgen werden, so muss man sich auch mit menschlichen Bedürfnissen beschäftigen. Wie entstehen Kooperation, Innovation und Überzeugungskraft? Diese Fragen sind Gegenstand meiner Promotionsarbeit im Fach der Allgemeinen Rhetorik. Kombiniert werden hierbei aktuelle Ansätze der Primatenforschung und der modernen Zeichentheorie. In der Verbindung beider Theorien ergibt sich für die Rhetoriktheorie ein Erklärungsmodell für die Evolution strategischer Kommunikation.


INFO: Primatenforschung und Zeichentheorie

Der Verhaltensforscher Michael Tomasello untersucht die kulturelle Entwicklung des Menschen anhand von Kleinkindern und vergleicht diese Fähigkeiten mit den Kompetenzen anderer Primatenarten. Dabei setzt er Kultur mit Kooperation gleich. Der Zeichentheoretiker Umberto Eco beschreibt dagegen Kultur als Kommunikation. Der italienische Semiotiker bezeichnet die kulturelle Entwicklung als eine erfolgreiche Übertragung neuer Zeichen auf andere Personen.


Kleinkinder vs. Primaten

Primaten sind sich in vielen Dingen sehr ähnlich. Menschenaffen und Menschen leben oftmals in Gruppen, haben gute Voraussetzungen für einen aufrechten Gang, auch Mimik und Gestik scheint verwandt. In der Primatologie wird hinsichtlich des Alleinstellungsmerkmals des Menschen zunehmend angeführt, dass sich der Mensch durch sein komplexes Sozialverhalten, speziell aufgrund seiner Fähigkeit zur Ko- operation, vom Affen unterscheidet. Die Verhaltensforschung sieht in der Kooperation einen Hauptgrund unseres Fortbestehens und die größte evolutionäre Leistung. So zeigt die Gegenüberstellung von Schimpansen und Kleinkindern die differenzierte Aufmerksamkeit und das Streben zur Kooperation. Der Affe lernt zwar aus seiner Umgebung und kann diese Erfahrung auf diverse Weisen einsetzen, doch imitiert er nur nach vielen Trainingseinheiten die Intentionalität seiner Artgenossen. Menschen hingegen möchten sehr früh informieren und teilen. Bereits ab dem zweiten Lebensjahr beginnen Kinder mit der Ausbildung von kooperativen Motiven und sprachlichen Kompetenzen.

Affenbaby in der Gruppe
Affenbaby in der Gruppe
Kleinkinder stärken durch Kooperation den eigenen Status
Kleinkinder stärken durch Kooperation den eigenen Status

Das Kind – und später der Erwachsene in komplexerem Maße - erwartet Aufmerksamkeit und Anerkennung für seine Taten, es möchte kreativ sein und als kreativ gelten. Doch um diese Kreativität in soziale Anerkennung zu verwandeln, bedarf es überzeugender Kommunikation.

 

Harte Überzeugungsarbeit

Der Überzeugungsarbeit geht eine soziokognitive Fähigkeit voraus, die es ermöglicht, Interessen und Absichten anderer Menschen zu verstehen. Wer die Absicht anderer vorhersehen kann, ist in der Lage, diese in die eigenen Planungen und Handlungen miteinzubeziehen. Der erfolgreiche Innovator ist somit nicht nur kreativ, sondern erzeugt eine geteilte Aufmerksamkeit und fördert Kooperationsmotive bei Gesprächspartnern.

Das Überzeugen gehört jedoch nicht zu den einfachen Verhaltenseinheiten (units of behavior) wie „Knopf drücken“ oder „Tür öffnen“, die in den Kognitionswissenschaften üblicherweise als Elementarhandlungen bezeichnet werden. Die Überzeugungsarbeit ist ein hoch komplexer und vielschichtiger Prozess. Sie lässt sich nicht durch einfache physikalische Elemente der Bewegung erklären, sondern muss durch psychische Aspekte der Bewegung erklärt werden. Das aktive mentale Bewegen einer anderen Person kann bei dieser die Bereitschaft auslösen, die übernommene Meinung auch längerfristig anzunehmen.
Die Angleichung des Gedankenguts wird durch den allgemeinen Wunsch, Teil einer Gesellschaft sein zu wollen, ermöglicht. Indem etwa Konventionen oder gruppenspezifisches „Schubladendenken“, welches die Zielgruppe bereits im Kopf hat, auf Neues angewandt wird, kann diese hiervon überzeugt werden. Nimmt nicht nur einer, sondern eine gewisse Anzahl an Empfängern diese neue Meinung an, setzt sie sich als neue Zeichenfunktion innerhalb der Gesellschaft fest und es kommt beispielsweise zum großen Gedränge vor dem Telefongeschäft des Großkonzerns mit dem angebissenen Apfel.

Lernt der Mensch mit einem Werkzeug wie beispielsweise einem Smartphone umzugehen, ist er auch in der Lage dieses Artefakt zu modifizieren. Das bedeutet, dass er fähig ist, das Werkzeug aufzurüsten. Man nennt diesen Prozess Wagenhebereffekt.

Der Mensch kann besser nachahmen und Dinge umwandeln als alle anderen Wesen. Das iPhone ist ein Symbol dieser besonderen Eigenschaften des Menschen. Es verkörpert sowohl das Interesse an Kooperation und Kommunikation als auch das Bedürfnis nach Neuem und Schönem. Innovative Produkte kommen diesen Wünschen nach Kreativität und sozialer Anerkennung immer mehr nach. Der ökonomische Fortschritt  wird immer stärker begleitet oder befördert durch das ästhetisch und rhetorisch Neue, selbst im industriellen Sektor. Die Personifikation dieses Phänomens ist Steve Jobs, der durch seine Auftritte nicht nur rhetorisch gekonnt das Produkt präsentierte, sondern auch die strategische Kommunikation im Vorfeld steuerte und letztendlich durch seinen zu frühen Tod zu einer Ikone dieses Phänomens wurde.

Steve Jobs, der iGod
Steve Jobs, der iGod

Wagenhebereffekt im Einsatz

Ein schönes Beispiel für die Nutzung erfolgreicher Überzeugungsmomente inklusive eines Wagenhebereffekts ist der Werbespot der ERGO-Versicherungsgruppe. Nach mehrmaliger Ausstrahlung des Filmchens entdeckte ein findiger Zuschauer einige Gemeinsamkeiten des Spots mit dem Kultfilm „High Fidelity“. Das Vergleichsvideo wurde in der Branche zur Ausgangsdiskussion von Kreativität versus Ideenlosigkeit. Die Werbeagentur Aimaq&Stolle imitierte die Settings, die Stimmung, die Handlungsabläufe und Kameraeinstellungen.
Plagiat oder Zitat? In der Wissenschaft würde es für ein solches Vergehen sofort die rote Karte geben, doch aus Sicht der Popkultur, der Werbeindustrie oder sogar der Kunst ist es nur ein legitimes Aufgreifen einer guten Idee und eine Neuassoziation des bereits Bekannten. Der Spot wurde wiederum mehrmals persifliert, was der Werbeagentur und dem Versicherer nicht schadete. Ganz im Gegenteil: Millionenfach angeklickt und in vielen Internetforen, Tages-zeitungen und Nachrichtensendungen erwähnt, verzeichnete die ERGO-Versicherungsgruppe einen Umsatz von über 20 Milliarden Euro im selben Geschäftsjahr. Wagenhebereffekte und eine strategische Kommunikation lohnen sich offenbar. Ob Apples iPhone, wissenschaftliche Entdeckungen oder künstlerische Avantgardismen, das überzeugende Neue ist oftmals gar nicht so neu und gerade deshalb erfolgreich. Für diese innovativen Kulturprozesse ist die Kombination aus Kreativität und Rhetorik entscheidend. Keine andere Spezies ist dazu fähig.


Zum Autor

Frank Duerr studierte Rhetorik und Kunstgeschichte in Tübingen und promoviert seitdem zu
„Rhetorik als kulturelle Innovation. Persuasive Aspekte der Kognition bei Michael Tomasello und Umberto Eco“ in Allgemeiner Rhetorik.
Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum der Universität Tübingen MUT, Geschäftsführer der Kommunikationsagentur acameo und Lehrbeauftragter des Career Service.
Zusätzlich ist er Herausgeber und Autor einiger Publikationen zu strategischer Kommunikation in Wirtschaft und Kultur.