Fragmente einer Lebenswelt

In der Sammlung des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen befinden sich alte Filmrollen, zu denen nur wenig bekannt ist. Wenn man sich auf ihre Spur begibt, können sie uns aber eine ganze Menge erzählen: Sie überliefern die Fragmente einer Lebenswelt in den 1960er-Jahren.

 

Von Tim Schaffarczik

 

 
Ein Mittwoch-Nachmittag irgendwann im April. Etwas überfordert stehe ich in einem kleinen, dunklen Raum im Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft im Tübinger Schloss. Neben mir stapeln sich Umzugskartons, es riecht noch ein wenig nach kaltem Rauch und insgesamt wirkt das ganze Ensemble etwas trostlos. In den Umzugskartons befinden sich alte Filmrollen in Metalldosen, die 16-mm-Filmbänder sind stellenweise geschmolzen, abgeknipst und neu zusammengeklebt. Außer dem Titel und der Länge des Films lassen sich von außen keinerlei Informationen finden. Und doch erzählen sie eine ganze Menge. Nämlich dann, wenn man sich auf ihre Spur begibt, ihre Herkunft herausfindet und fragt, wozu sie genutzt wurden. Am Ende steht ein Ausschnitt einer Lebenswelt aus den 1960er-Jahren. Mit Hilfe von Briefen und Protokollen können alltägliche Sinnstrukturen dieser Lebenswelt rekonstruiert werden.

 

 

 

Doch zunächst begeben wir uns ganz an den Anfang: Insgesamt 30 Filmrollen besaß das Ludwig-Uhland-Institut, bis etwa zwei Drittel des Bestandes durch ein Feuer in der Außenstelle des Instituts zerstört wurden. Nach deren Rettung aus der Brandruine entschied man sich dafür, die Filme restaurieren und digitalisieren zu lassen. Die einzige Information, die es zu diesen Filmen gab, war ihre Herkunft: Rottenburg. Genauer waren sie irgendwann mal im Besitz des Katholischen Filmwerks. Also fing ich an, im Diözesanarchiv in Rottenburg nach Informationen zu suchen. Zu zwei von elf Filmen konnte ich tatsächlich eine Erwähnung finden, über den Rest ist heute nichts mehr bekannt. Man kann nur vermuten, dass sie einmal Teil des Filmarchivs des Katholischen Filmwerks waren. Auch wenn meine Suche in dieser Hinsicht nicht sehr erfolgreich war, fand ich etwas anderes: eine Menge interessanter Akten zur katholischen Filmarbeit und schließlich eine Denkschrift zum Pfarrkino vom damaligen Direktor des Filmwerks Eugen Semle. Die Filme selbst und ihre Inhalte sind also gar nicht Untersuchungsgegenstand, aber sie gaben den Anstoß, die kirchliche Filmarbeit einmal genauer zu betrachten.

 

Die katholische Kirche hat lange Zeit das gesellschaftliche Leben in Deutschland mitbestimmt. Die Alltagswelt war dabei bestimmt von Werten und Normen, die durch die Kirche festgelegt wurden. Dazu zählten zum Beispiel das traditionelle Familienbild, die zweidimensionale Einteilung von Geschlechterrollen, die Wichtigkeit kirchlicher Sakramente, wie zum Beispiel Taufe oder Ehe, und die Vorstellung davon, was moralisch richtig ist. Sie stellte also eigene Verhaltens- und Denkmuster bereit, die schon den jungen Christen durch verschiedene erzieherische Maßnahmen wie die kirchliche Filmarbeit näher gebracht wurden. Diese hat sich in Deutschland erst in den Jahren nach dem Krieg herausgebildet. Zwar hatte der Papst den Film schon 1936 zum Erziehungsmittel auserkoren, die Wirren des Krieges allerdings bremsten die erste Euphorie. Als sich der Film dann zu einem immer wichtiger werdenden Medium entwickelte und die Menschen in Massen in die Filmtheater strömten, sah sich die katholische Kirche einem Problem ausgesetzt: Der „schlechte“ Film beeinflusse das moralische Denken der Menschen, verändere ihre Wertevorstellungen und schaffe eine neue, anders denkende Welt. Diesem Problem nahm sich der Direktor des 1952 gegründeten Katholischen Filmwerks an. In den 1960er- Jahren startete das Katholische Filmwerk e.V. mit Sitz in Rottenburg am Neckar eine neue Offensive. Sogenannte Pfarrkinos – kirchliche Räume mit Filmprojektor – sollten junge Christen zurück auf den rechten Weg bringen. Mit dem Zeigen „guter“ Filme und anschließendem Dialog versuchten kirchliche Spielstellen, den Menschen die traditionellen Denkmuster ins Gedächtnis zurück zu rufen. So machten die kirchlichen Gremien die Idee vom Film als moralischem Erziehungsmittel massentauglich.

 

In seiner Denkschrift zum Pfarrkino diskutiert Eugen Semle zum einen die Vorteile kirchlicher Filmarbeit und zum anderen den Begriff des Pfarrkinos in Abgrenzung zu herkömmlichen Filmtheatern. Der Unterschied bestand vor allem in der Auswahl der Filme, der Durchführung der Veranstaltung und der Frequenz der Spielzeiten. In kirchlichen Gemeinderäumen wurden den Jugendlichen der Gemeinde Filme gezeigt, die von der katholischen Filmkommission mit dem Prädikat „wertvoll“ ausgezeichnet wurden. Die Filminhalte wurden im Anschluss intern besprochen. Diese Veranstaltungen fanden höchstens einmal in der Woche statt. Unter dem Deckmantel der Unterhaltung sollten sich die Jugendlichen so mit kirchlichen Normen und Werten auseinandersetzen.

 

 

 

Vorausgegangen war der Diskussion um Pfarrkinos eine zunehmende „Kirchenmüdigkeit“ der ansässigen Christen. Daran änderten auch Belehrungen und mahnende Worte nicht viel. Im Laufe der 1960er-Jahre veränderte sich die Gesellschaft massiv und so musste sich auch die Kirche diesen Strukturen anpassen. Das Pfarrkino war also ein willkommenes Mittel, um die Menschen wieder mehr von kirchlichen Grundsätzen zu überzeugen. Eugen Semle
schreibt dazu in seiner Denkschrift: „Entspricht ein Film-Leitbild [...] dem christlichen Ideal, dann strahlt davon eine größere Wirkkraft aus als von noch so vielen, gut gemeinten Ratschlägen ernster Erzieher.“ Das Pfarrkino erzeugte also einen neuen Zugang zu den jungen Christen, die dem Film mittlerweile mehr abgewinnen konnten als traditioneller, kirchlicher Erziehung. Eine Veränderung gesellschaftlicher Denkmuster führt also offenbar zu einem Umdenken innerhalb der kirchlichen Erziehungsarbeit. Die Einführung des Pfarrkinos kann als Antwort auf die sich verändernden Strukturen innerhalb der Gesellschaft gesehen werden. Die Denkschrift scheint also ein einschneidender Punkt in der Entwicklung der kirchlichen Filmerziehung gewesen zu sein. Was aber kann sie uns sagen, was nicht schon offensichtlich ist?

 

 

 

Die Empirische Kulturwissenschaft setzt schon lange auf qualitative Methoden. Sie versucht, Sinnzusammenhänge und -strukturen an die Oberfläche zu bringen, die alltäglich sind und deswegen meist für das ungeübte Auge unsichtbar erscheinen. Der Forschende macht diese alltäglichen Sinnstrukturen sichtbar, indem er Zeugen befragt und Handlungen beobachtet. Wie aber ist das möglich, wenn die Zeugen stumm sind? Wenn sich Handlungen nicht mehr beobachten lassen? Die Lösung nennt sich Historische Ethnographie. Sie passt das Werkzeug eines Ethnographen in der Feldforschung an die Anforderungen einer historischen Forschung an und ermöglicht so eine Rekonstruktion vergangener alltäglicher Sinnstrukturen. Dabei werden Archivalien zu Beforschten und das Archiv zum Feld.

 

 

 

Manch einer mag spöttisch behaupten, dass ein staubiger Stapel Akten nicht viel mehr zu sagen hätte als das, was in den Zeilen steht. Ganz so einfach ist das allerdings nicht. In einem Theaterstück zum Beispiel hat jegliche Handlung und jeder Dialog, jede soziale Interaktion also, eine Bedeutung. So verhält es sich auch im Alltag. Jede Interaktion verweist auf eine Bedeutung, einzelne Bedeutungen wiederum lassen sich zu einem Bedeutungsmuster zusammensetzen. Handlungen und Dialoge sind also Teil von Inszenierungen auf der Bühne des sozialen Theaters. Dazu zählen auch Verschriftlichungen wie Briefe und Protokolle, denn diese verweisen auf alltägliche Handlungen. Man muss also zwischen den Zeilen lesen können. Alltägliche Sinnstrukturen sind meist so selbstverständlich, dass sie genutzt werden, ohne darüber nachzudenken. Auch die historischen Akteure beschreiben diese Sinnstrukturen demnach nicht explizit, sondern verweisen auf sie durch ihre alltäglichen Handlungen. Es gilt also, diese Selbstverständlichkeiten sichtbar zu machen.

 

 

 

 

 

Zu Recht mag man die Frage stellen, wie man Selbstverständlichkeiten sichtbar macht, wenn sie doch selbstverständlich sind. Ein nützliches Instrument dazu ist die Selbstreflexion des Forschenden. Dieser stellt sich die Frage, wie er in seiner Rolle als Forschender Einfluss auf den Forschungsprozess nimmt. Der erste Schritt dazu ist es, sich klar zu machen, dass er das Feld durch eine eigene Brille betrachtet und seine Beobachtungen in ein ganz persönliches Deutungsmuster einordnet. Deshalb sind Beobachtungen niemals objektiv. Sie setzen andere Selbstverständlichkeiten voraus als die Akteure der Vergangenheit. Diese Sammlung an Selbstverständlichkeiten, die ein Akteur im Alltag voraussetzt, nennt man auch Sinnhorizont. Der/Die Forschende besitzt also einen anderen Sinnhorizont als die historischen Akteur*innen. Wenn es das Ziel der Forschung ist zu, rekonstruieren, wie die Akteur*innen ihre eigene Vergangenheit erfahren haben, muss sich der Forschende zuerst bewusst werden, dass er die Vergangenheit der Akteur*innen anders erfährt als sie selbst. Ein Beispiel: In den Quellen war zu lesen, dass der 1951 erschienene Film „Die Sünderin“ eine Welle des Entsetzens auslöste. Der Film zeigt das Leben einer Prostituierten, deren Mutter ihren inhaftierten Stiefvater betrügt. Für heutige Verhältnisse kommt uns die Handlung fast schon ein bisschen langweilig vor. Den Grund für den massiven Widerstand der Bevölkerung in katholisch geprägten Gemeinden leuchtet erst ein, wenn man den Film mit den Augen der damaligen Akteur*innen sieht. Damals beinhaltete der Film direkt drei Tabuthemen: Prostitution, Scheidung und Ehebruch. Was bewirkt somit die Selbstreflexion des/der Forschenden? Sie hilft Vorannahmen herauszufiltern, die eigenen Sinnhorizonte zu erkennen und gegen die der Akteur*innen abzugrenzen, so dass der/die Forschende in der Lage ist, die Erfahrungen der Akteure zu rekonstruieren und sie in größere Sinnstrukturen einzuordnen.

 

 

 

An dieser Stelle ist es notwendig, auf den Titel dieses Artikels zu sprechen zu kommen: Fragmente einer Lebenswelt. Warum rekonstruiert der Forschende nur einen Ausschnitt einer Lebenswelt? Die Rekonstruktion einer vollständigen Lebenswelt ist schlichtweg utopisch. Zum einen sind die erhaltenen und verschriftlichten Erfahrungen der Akteur*innen niemals allumfassend. Sie setzen ein bestimmtes Wissen voraus und sind an einen bestimmten Personenkreis adressiert. Auch die Beobachtungen der historischen Akteure sind niemals objektiv: Sie haben die Welt ebenfalls durch eine bestimmte Brille betrachtet, durch die sie die Welt nicht gänzlich erfassen konnten. Wie diese Inhalte die Ergebnisse der Forschung beeinflussen, klärt die klassische Quellenkritik, die für die Historische Ethnographie um einige Punkte erwei­tert werden muss. Zum anderen bleiben durch den Auswahlprozess des/der Forschenden Archivalien unberücksichtigt. Auch hier kann die Selbstreflexion des/der Forschenden helfen, sich bewusst zu werden, wie sein Blick von Aussehen, Charakter und Inhalt der Archivalien beeinflusst wird. Ein Beispiel: Enthält eine Akte einen offiziell aussehenden Stempel, einen schönen Briefkopf, ein Siegel oder die Unterschrift einer historischen Persönlichkeit, spricht man dieser einen gewissen Legitimitätscharakter zu, der die Inhalte glaubhafter erscheinen lässt. Eine Randnotiz, ein handschriftlicher Zettel, ein scheinbar unwichtiger Brief, all das kann auf diese Weise schnell unter den Tisch fallen. Dabei sind diese für die Rekonstruktion vergangener Sinnstrukturen nicht weniger von Bedeutung. Denn Symbole, die auf alltägliche Sinnstrukturen verweisen, lassen sich in allen Verschriftlichungen finden, gerade in den alltäglichen.

 

 

 

Was also erzählt uns die Denkschrift zum Pfarrkino über den damaligen Alltag der Akteur*innen? Um sich den alltäglichen Selbstverständlichkeiten anzunähern, fußte meine Forschung auf der Frage, wie das Pfarrkino zur Erziehung der Jugend genutzt wurde. Voraussetzung für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst die Beschäftigung mit den zentralen Begriffen der Denkschrift: Bildung und Erziehung. In der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Aufkommen des Bürgertums war Erziehung zentraler Bestandteil der Bildung, denn Bildung hieß auch immer Erziehung moralischer und sittlicher Werte. Nicht nur Bildungsinstitutionen, sondern auch das Museum, die Kirche und das familiäre Umfeld griffen diesen Bildungsbegriff auf. Er änderte sich erst im Laufe der 1960er-Jahre und fand seinen Schlusspunkt in der 68er-Revolution. Wenn hier um 1960 in diesem Kontext also von Filmbildung oder Filmerziehung gesprochen wird, ist meist das gleiche gemeint: Die Einschreibung von kirchlichen Normen und Wertvorstellungen durch das Medium Film. Dazu wurde der Hauptfilm begleitet von mehreren kurzen Dokumentarfilmen aus dem Filmarchiv des Katholischen Filmwerks. Mit dem Wissen aus den Beifilmen wurden die zu vermittelten Aspekte aus dem Hauptfilm anschließend besprochen. Der Abend im Pfarrkino wurde so zum partizipativen Erlebnis, dem man nicht nur beiwohnte, sondern an dem man auch teilnahm. Der Dialog förderte also eine stärkere Auseinandersetzung mit den Inhalten des Films und mit dem, was er vermitteln sollte: kirchliche Vorstellungen davon, welche Werte und Normen richtig sind.

 

 

 

Was für uns heute merkwürdig erscheint, war Anfang der 1960er-Jahre noch alltäglich: Die Kirche nahm großen Einfluss auf die Erziehung der Jugend. Sie legte den Jugendlichen Denk- und Verhaltensmuster nahe, die kirchlichen Normen und Wertvorstellungen entsprachen. Darüber hinaus zeigt die Einführung des Pfarrkinos, dass schon Anfang der 1960er-Jahre eine Veränderung innerhalb der Gesellschaft wahrgenommen wurde. Denn Umbrüche, wie die Einführung des Pfarrkinos, verweisen immer auf eine Veränderung gesellschaftlicher Denkmuster.

 

 

 

Das also konnten die Filmrollen erzählen, die ich in der Sammlung des Ludwig-Uhland-Instituts gefunden habe. Auch wenn ich über die Filme selbst nicht viel herausgefunden habe, so waren sie doch ein Sprungbrett zu einer vergangenen Lebenswelt. Die historische Ethnographie hat sich dabei als Chance erwiesen in diese Lebenswelt einzutauchen. Zum Schluss stellt sich wie so oft die Frage: Wozu habe ich wochenlang im Archiv gesessen und mich durch alte Akten gewühlt? Zum einen ist es möglich, mehr über den Alltag der historischen Akteur*innen zu erfahren, zum anderen zeigt diese Forschung einmal mehr, dass Sinnstrukturen wandelbar sind. Sie unterliegen einem Prozess und sind deshalb immer nur als Fragmente zu fassen. So kommt es, dass die Dinge und Archivalien, die in unseren Sammlungen und Archiven liegen, uns einiges erzählen können. Sie öffnen dort ein Fenster, wo die Tür zu vergangenen Lebenswelten schon lange verschlossen ist.