Die gespiegelte Sprache

Wie funktioniert unsere Sprache? Trotz völlig verschiedener Ansätze können Sprachwissenschaftler und Neurologen dieses Rätsel nur gemeinsam lösen. Dabei helfen Menschen, deren Gehirn Sprache auf ganz ungewöhnliche Weise verarbeitet.

von Bernd Eberhart

Erstveröffentlicht in Faktor14 Ausgabe 5


An einem grauen Abend des Jahres 1861 setzt sich ein junger Franzose seine Pistole an die Schläfe und drückt ab. Was ihn zu diesem Schritt bewogen hat, ist nicht überliefert. Die Erkenntnisse, die der französische Arzt Simon Alexandre Ernest Aubertin später mit Hilfe seines Patienten gewinnen kann, sind hingegen bestens dokumentiert. Der junge Mann hatte sich bei seinem missglückten Suizidversuch einen Teil der Schädeldecke weggeschossen, ohne jedoch sein Gehirn ernsthaft zu beschädigen. Im Laufe der Behandlung stellt Aubertin fest, dass der Verletzte schlagartig verstummt, sobald auf den nun freiliegenden linken Frontallappen seines Gehirns mechanisch Druck ausgeübt wird. Der Mann kann erst wieder sprechen, wenn der Arzt den hierfür verwendeten Spatel entfernt – der ausgeübte Druck scheint die Sprachfunktion des Patienten vorübergehend auszuschalten. Die naheliegende Schlussfolgerung: dass diese Region in der linken Hemisphäre des Gehirns eine elementare Rolle für unsere Sprache spielt.

 

Die menschliche Sprache ist einzigartig in der Natur. Zwar kommunizieren Tiere auch miteinander und einige trainierte Primaten beherrschen erwiesenermaßen Teile der amerikanischen Gebärdensprache. Doch bleiben diese Gespräche auf einem eingeschränkten Niveau. Außer dem Menschen verwendet kein Lebewesen eine wirklich komplexe Sprache. Wir sprechen über Dinge, die sich nicht unmittelbar in unserer Nähe befinden, benennen abstrakte Konzepte und setzen unsere Sprache auf kreative und unendlich erweiterbare Weise ein. All dies erfordert eine immense geistige Leistung. So ist es nicht verwunderlich, dass sich im Laufe der Evolution des Menschen vor allem jene Regionen des Gehirns stark vergrößert haben, in denen heute die Sprachzentren verortet werden.

Unsere Sprache – angeboren oder erlernt?

Faszinierend ist auch die Art und Weise, wie wir das Sprechen erlernen: wir tun es praktisch von allein. Im Gegensatz zum Rechnen oder Lesen musste uns das Sprechen niemand bewusst beibringen. Säuglinge kategorisieren die sie umgebenden Sprachlaute nach statistischer Häufigkeit und erkennen so charakteristische Muster, die sie im Laufe der Zeit zu ihrer Sprache kombinieren. Die Leichtigkeit, mit der wir eine so komplexe Fähigkeit wie das Sprechen erlernen, die Evolution unseres Gehirns und die Alleinstellung der menschlichen Kommunikation drängen die Frage nach einer Prädisposition der Sprache auf: Besitzt das menschliche Gehirn genetisch vorfixierte Strukturen, die speziell darauf abgestimmt sind, unsere Sprache zu verarbeiten?

Kernspinaufnahme vom Gehirn eines Patienten mit reorganisierter Sprache. Man erkennt die linkshemisphärische Läsion: Ein großes Loch. Hier ist das Gewebe abgestorben, der Raum ist mit Gehirnflüssigkeit gefüllt.
Kernspinaufnahme vom Gehirn eines Patienten mit reorganisierter Sprache. Man erkennt die linkshemisphärische Läsion: Ein großes Loch. Hier ist das Gewebe abgestorben, der Raum ist mit Gehirnflüssigkeit gefüllt.

Wie so oft in der Wissenschaft lässt sich diese Frage genau dann beantworten, wenn man Fälle betrachtet, die von der Norm abweichen. Es gibt Menschen, deren Gehirn anders organisiert ist und die darum ihre Sprache auf andere Weise verarbeiten. Vergleiche mit diesen können interessante Rückschlüsse auf die reguläre Struktur der Sprachverarbeitung im Gehirn liefern. Eine solche Möglichkeit bieten sogenannte reorganisierte Sprecher. Seit den Zeiten des Arztes Aubertin und seines Kollegen Jean Broca ist unter Neurowissenschaftlern unbestritten, dass die Sprachproduktion größtenteils in der linken Hirnhälfte angesiedelt ist. Diese sogenannte Linkslateralisierung findet sich bei mehr als 90 Prozent der Menschheit. Vor allem unter Linkshändern gibt es Ausnahmen – und bei Menschen, deren Sprachfunktion aufgrund einer Hirnverletzung auf andere Gebiete ausweichen musste, also reorganisiert wurde. Wie bei dem von Aubertin mit einem Spatel traktierten Patienten sind in diesen Fällen bestimmte linkshemisphärische Hirnareale funktionslos. Anders als bei diesem jedoch auf Dauer. Das Hirngewebe ist abgestorben, auf einem Kernspin-Bild ist ein großes Loch zu sehen. Werden Teile der Sprachzentren eines Kindes vor oder während der Geburt beschädigt, ist das Gehirn noch plastisch genug, diese Funktionen in die rechte Hirnhälfte umzulagern. Das Gehirn reorganisierter Sprecher ist im Bezug auf die Sprachareale also genau spiegelbildlich zu einem gesunden Gehirn angeordnet.

Fächerübergreifende Wissenschaft

Eben dieser reorganisierten Sprache (RS) nimmt sich ein Forschungsprojekt der Uni Tübingen an. Der Sonderforschungsbereich 833 (SFB 833) vereint Linguisten, Mediziner, Psychologen und Neurowissenschaftler unter einem Dach. Unter dem Titel Bedeutungskonstitution – Dynamik und Adaptivität sprachlicher Strukturen will der SFB beleuchten, wie Bedeutung in einer Äußerung entsteht. Die Wissenschaftler fragen sich beispielsweise, inwieweit diese vom sprachlichen Kontext oder dem zeitlichen Muster der Sprachverarbeitung abhängt. Das Teilprojekt B5 untersucht ganz konkret Syntax und Semantik Reorganisierter Sprache und ihre neuronale Architektur. Klassische linguistische Methoden werden hier kombiniert mit modernen neurologischen Ansätzen. So kann etwa im Kernspintomographen in Echtzeit verfolgt werden, welche Hirnregionen bei bestimmten Aufgaben aktiv sind. Auf diese Weise soll herausgefunden werden, was genau passiert im Gehirn der RS-Sprecher. Interessant ist hier vor Allem, wie sich dies von Gesunden unterscheidet.

 

Bemerkenswert an der RS ist zuallererst ihre Unauffälligkeit. Im Alltag hört man RS-Sprechern nichts an. Sie drücken sich völlig verständlich aus und durchlaufen problemlos sämtliche Bildungswege. Einzig eine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit der rechten Körperseite unterscheidet sie von Menschen ohne Hirnschädigung. Sprachlich auffällig werden sie erst, wenn ihnen in Experimenten wirklich knifflige Aufgaben gestellt werden. Die Betroffenen können einige komplexe syntaktische Strukturen schlechter verarbeiten, wie zum Beispiel Passiv- und Relativsätze, aber auch Topikalisierungen. Letztere sind Sätze, in denen die übliche Reihenfolge von Subjekt, Verb und Objekt vertauscht ist.

Worin unterscheidet sich die reorganisierte Sprache?

Es gibt mehrere mögliche Erklärungen für die Grammatikschwächen von Menschen mit rechtshemisphärisch reorganisierter Sprache. Ziel der Studie ist es, Argumente für oder gegen diese zu finden. Eine der Theorien geht davon aus, dass die reorganisierte Sprache einfach labiler und dadurch störanfälliger ist, weil sie sich in der rechten Gehirnhälfte neu etablieren musste. Eine andere mögliche Erklärung ist, dass RS-Sprecher keine sogenannten Spuren in Sätzen interpretieren können. In der generativen Grammatik hinterlässt jeder bewegte Satzteil an seinem Ursprungsort eine Spur. Diese kann man sich vorstellen wie eine Fußspur im Schnee: Steht eine Person im Schnee und geht einen Schritt weiter, kann man anhand des Fußabdrucks erkennen, wo dieser Mensch gerade herkommt. Die ursprüngliche Position, sowohl einer Person im Schnee als auch eines bewegten Satzteils, lässt sich also anhand der hinterlassenen Spur rekonstruieren.

 

Man muss sich natürlich bewusst sein, dass es sich hier um ein abstraktes Konzept handelt. Die Spur wird in einem Satz nicht explizit mit ausgesprochen. Sie ergibt sich aus dem Aufbau des Satzes und wird von unserem Gehirn anhand von Erfahrungswerten und innerhalb der angeborenen Strukturen zur Sprachverarbeitung erstellt. So kann der Satz auf eine vom Gehirn prozessierbare Form, eine Tiefenstruktur, herunter gebrochen werden. Das Konzept der Spur ist, wie die gesamte generative Grammatik, eine Veranschaulichung der Prozesse, die möglicherweise bei der Verarbeitung eines Satzes im Gehirn ablaufen.

 

Ein RS-Sprecher hat Probleme mit dieser Spur. Er sieht sozusagen die Person im Schnee, nicht aber deren Fußspur – er kann sich nicht erklären, wo die Person herkommt. Der reine Satzbau hilft ihm also nicht weiter. Er muss auf andere Hilfsmittel zurückgreifen, um einen Satz richtig verstehen zu können. Möglich sind hier beispielsweise die Semantik, also die Bedeutung, oder der sprachliche Kontext. Sind diese Hilfsmittel nicht gegeben, muss der Satz nach einer Default-Strategie verarbeitet werden, also der einfachsten und im Alltag häufigsten möglichen Struktur.

Ausgefeilte Sprachexperimente

Beim Erstellen der für die Studie benötigten kniffligen Sprachaufgaben sind auch die studentischen Hilfswissenschaftler des SFB gefragt. Unter anderem erfinden wir möglichst viele Sätze nach bestimmten, immer gleichen Mustern. Ein solcher Satz ist zum Beispiel „Der Tierpfleger betäubt den Affen“. In einer Vorstudie mussten Probanden verschiedener Altersklassen diesen Satz auf seine Plausibilität hin beurteilen, zusammen mit 255 weiteren Sätzen dieser Art. Die Sätze kommen jeweils in vier Varianten vor. Diese sind so konstruiert, dass sie in der vierten Variante, in diesem Beispiel „Der Affe betäubt den Tierpfleger“, möglichst unrealistisch sind. Unterscheidet sich die vierte Variante eines Satzes in ihrer so ermittelten Plausibilität tatsächlich stark von den ersten drei Varianten, erzielt der Satz den gewünschten Effekt. Er wird Teil der eigentlichen, für die Patienten bestimmten Aufgaben.

 

In diesen Experimenten soll zum Beispiel herausgefunden werden, ob die RS-Sprecher Subjekt und Objekt eines Satzes eindeutig zuordnen können. In einer sogenannten Acting-Out-Aufgabe sollen sie die in Beispielsätzen beschriebene Situation mit Spielfiguren nachstellen. Um die Hypothese mit den fehlenden Spuren zu überprüfen, werden den Patienten unter anderem topikalisierte Sätze präsentiert. Wenn man den Affen als Objekt ins Vorfeld des zuvor genannten Beispielsatzes stellt, entsteht ein solcher topikalisierter Satz: „Den Affen betäubt der Tierpfleger“. Dieser ist in der Alltagssprache nicht sehr geläufig, wird von gesunden Sprechern jedoch problemlos erkannt. Ein RS-Sprecher hingegen hat hier laut Theorie Probleme mit der Spur, die der Affe in der Satzstruktur hinterlässt. Sein Weltwissen sagt ihm aber, dass Affen normalerweise keine Tierpfleger betäuben und hilft ihm, den Satz richtig zu interpretieren.

Der Löwe jagt die Tigerin. Oder den Löwen jagt die Tigerin? Einer der Sätze, die von Patienten im Experiment mit Spielfiguren nachgestellt werden. Objekt und Subjekt richtig zuzuordnen fällt ihnen dabei oft schwer.
Der Löwe jagt die Tigerin. Oder den Löwen jagt die Tigerin? Einer der Sätze, die von Patienten im Experiment mit Spielfiguren nachgestellt werden. Objekt und Subjekt richtig zuzuordnen fällt ihnen dabei oft schwer.

Subjekt oder Objekt? Nicht immer einfach

Schwieriger ist es bei „Den Affen krault der Tierpfleger“. Ein liebevolles Äffchen ist genau so plausibel wie ein zärtlicher Tierpfleger. Ein Mensch mit rechtshemisphärischer Sprache würde hier vielleicht den Affen als Subjekt interpretieren. Wird bei den Sätzen „Den Tierpfleger betäubt der Affe“ und „Den Tierpfleger krault der Affe“ der Spielfiguren-Tierpfleger fälschlicherweise als Subjekt dargestellt, wird die Satzstruktur vermutlich nach der Default-Strategie analysiert. Das Hilfsmittel Kontext ist bei einem einzeln präsentierten Satz nicht verfügbar. Und der medizinisch versierte Affe kann aufgrund der Syntax-Schwäche der Patienten nur schwer als Kuriosität entlarvt werden. Ein solches Ergebnis würde die Hypothese von den fehlenden Spuren stützen. Im Umkehrschluss würde es darauf hindeuten, dass ein gesundes Gehirn beim Satzverständnis tatsächlich mit solchen Strukturen arbeitet.

 

Ziehen sich diese sehr theoretischen Spuren nun aber doch auf irgendeine Weise auch ganz praktisch durch unser Gehirn? Fragen wie diese treiben die Wissenschaftler im SFB 833 an. Die feinen Unterschiede bei den reorganisierten Sprechern stellen dabei ein weiteres Teil im Mosaik der Sprachforschung dar. Vieles spricht schon jetzt für eine Prädisposition der Sprache im Gehirn. Das würde bedeuten, dass die neuronalen Sprachzentren von uns allen nach ähnlichen Mustern gestrickt sind. Bis feststeht, was genau beim Sprechen in unseren Köpfen abläuft, muss jedoch noch lange weitergeforscht werden. Die verschiedensten Menschen tragen bei zu diesem jahrhundertelangen Projekt: der unglückliche Franzose, die reorganisierten Sprecher und die vielen anderen untersuchten Patienten, der energische Arzt Aubertin und pfiffige Linguisten auf der ganzen Welt. Es gilt herauszufinden, wie deren Theorien tatsächlich in unseren Köpfen verdrahtet sind. Erst dann kennen wir die Antwort auf das Rätsel um die vielleicht menschlichste unserer Fähigkeiten – die Sprache.


INFO: Generative Grammatik, Spuren, X-Bar-Schema

Die generative Grammatik – entscheidend geprägt von dem Linguisten Noam Chomsky – geht davon aus, dass jeder Satz aus einer ihm zugrundeliegenden, basalen Struktur generiert wird. Ein Satz hat also verschiedene logische Ebenen. Eine oberflächliche, auf der wir kommunizieren, und eine tiefere, in der der Satz in einer eher formelartigen, völlig eindeutigen Form steht. Aus dieser Tiefenstruktur gelangt man über Verschieben der einzelnen Satzglieder zu verschiedenen möglichen Oberflächenstrukturen. Diese entsprechen dann einem „normalen“ Satz, so wie wir ihn aussprechen, aufschreiben oder verstehen. Im Gegenzug sind die Satzteile in der Oberflächenstruktur über die während der Bewegungen hinterlassenen Spuren mit ihren Ausgangspositionen in der Tiefenstruktur verknüpft. Natürlich sind nicht alle möglichen Verschiebungen der Einzelphrasen erlaubt. Falsche Bewegungen resultieren in ungrammatikalischen Sätzen, so die Theorie. Welche Bewegungen ablaufen und welche verboten sind ist, vereinfacht gesagt, der Kern dieser Syntaxtheorie. Ein Satz mit all seinen Teilphrasen und Bewegungen kann im sogenannten X-Bar-Schema anschaulich dargestellt werden.


Schaubilder rechts:
X-Bar-Schemata oder Baumdiagramme eines Beispielsatzes. Die Pfeile stellen die unterschiedlichen Bewegungen dar, die von der Tiefenstruktur entweder zur normalen oder topikalisierten Satzstellung führen. Die bewegten Satzteile hinterlassen am Ursprungsort eine Spur, S.

NP = Nominal-Phrase
VP = Verb-Phrase
CP = Complementizer-Phrase



Zum Autor

Bernd Eberhart studiert in Tübingen Englisch und Biologie und arbeitet im SFB 833 als Hiwi. Nachdem er nun sein Staatsexamen hinter sich gebracht hat muss er sich entscheiden, ob er lieber ein schreibender Lehrer oder ein gelehrter Schreiberling werden will.