Interview: Was ist Paläoantrhopologie?

Seit wann es den modernen Menschen gibt und wie wir dahin kamen, wo wir heute stehen, sind Fragen der Paläoanthropologie. Wir haben mit der Leiterin des Forschungsbereichs an der Uni Tübingen, Prof. Dr. Katerina Harvati, über ihre Arbeit gesprochen und gefragt, wohin uns die Evolution führen könnte.

Fragen und Übersetzung aus dem Englischen von Markus Dietzel und Jan Lange

Veröffentlicht in Faktor14 Magazin Ausgabe 6


Paläoanthropologie ist ein Zungenbrecher, eine Kombination aus Anthropologie und Paläontologie, die zur Verwirrung einlädt. Können Sie uns knapp erzählen, womit sich die Paläoanthropologie konkret auseinandersetzt?
In der Paläoanthropologie beschäftigen wir uns mit der Frage nach dem Leben und der evolutionären Entwicklung früher menschlicher Populationen. Wir versuchen herauszufinden, wie die frühen Menschen konkret gelebt haben. Welche Gesundheitsprobleme hatten sie, in welcher Umwelt haben sie gelebt, was für eine Ernährung hatten sie, haben sie einander bekämpft, welche Sozialstruktur hatten sie, woran sind sie gestorben? – All das sind Fragen, die wir stellen. Um diese zu beantworten, analysieren wir direkt die menschlichen Knochen und ihre Struktur. Was den gesamten Forschungsprozess anbelangt, sind wir allerdings sehr interdisziplinär ausgerichtet.

Nicht zur Dekoration, sondern als Anschauungsmaterial dienen Schädel und andere Knochen im Büro von Prof. Katerina Harvati.
Nicht zur Dekoration, sondern als Anschauungsmaterial dienen Schädel und andere Knochen im Büro von Prof. Katerina Harvati.

Wie kann man sich diese interdisziplinäre Arbeitsweise konkret vorstellen?

Unsere Arbeit gliedert sich im Wesentlichen in zwei Teile: Feld- und Laborarbeit. Ohne Feldarbeit gibt es keine Fossilien zum Untersuchen. Insbesondere hierbei arbeiten wir eng mit der Archäologie und der Geologie zusammen. Während die Zusammenarbeit mit den Geologen wichtig ist, um auf die richtigen Fundstellen zu stoßen, beschäftigen sich die Archäologen mit den ausgegrabenen Artefakten wie beispielsweise Werkzeuge oder Waffen, was unseren Part, die Analyse der menschlichen Knochen, kontextualisiert. Der weitaus größere Teil unserer Arbeit findet allerdings im Labor und am Computer statt. Wir verbringen viel Zeit damit, die ausgegrabenen Knochen zu vermessen und mit Knochen von anderen Primaten und menschlichen Populationen zu vergleichen, im sie auf dieser Grundlage zu interpretieren.

 

Wie hat sich die Ernährung in der Entwicklung zum modernen Menschen verändert?

Das ist eine gute Frage, denn sie umreißt Themen der aktuellen Forschung. Nehmen wir beispielweise mein Forschungsgebiet, die Neandertaler und die modernen Menschen: Es gibt die Hypothese, dass den Neandertalern gerade ihr gutes Jagdvermögen und ihr fast exklusiver Fleischkonsum zum Verhängnis geworden sind. Während die Neandertaler sich vorzugsweise vom Fleisch größerer Säugetiere ernährten, waren die modernen Menschen flexibler, sie haben ebenso kleinere Tierarten, Vögel, Fische und anderes gegessen. Eine wichtige Hypothese, an deren Bestätigung oder Widerlegung momentan gearbeitet wird, lautet daher, dass sich der moderne Mensch gegenüber dem Neandertaler evolutionär durchgesetzt hat, da er sich in seiner Ernährung flexibler auf seine sich verändernde Umwelt einstellen konnte.

 

Und wann betritt dieser moderne Mensch die Weltbühne?

‚Der moderne Mensch’ ist eine Idee von uns Nachfahren und setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Moderne Verhaltensweisen und moderne Anatomie. Während der Archäologie die Beantwortung der ersten Frage anhand der Indikatoren zufällt (welche Werkzeuge hatten unsere Vorfahren, haben sie Kunst gemacht, hatten sie symbolische Artefakte und so weiter), sind wir für die zweite Frage zuständig. Hier können wir das Auftauchen des modernen Menschen auf etwa 150.000–200.000 Jahre zurückdatieren. Das ist ziemlich jung, wenn man sich vor Augen hält, dass die frühesten menschlichen Vorfahren etwa 6,5 Millionen Jahre alt sind. Die Frage, wann beide Komponenten zusammen gekommen sind, ist zum einen ungeklärt und zum anderen philosophisch, sehr kompliziert. Wenn Sie an die Ausgrabungsstätten hier in der Region denken, dann ist das zwischen 30.000–40.000 Jahre her.

 

Wann und wie wurde die Erde von Menschen besiedelt?

Das ist je nach Region ganz unterschiedlich. Wie gesagt sind die bisher ältesten und in Afrika gefundenen Fossilien etwa 6,5 Millionen Jahre alt. In Eurasien ist der älteste Fund etwa 1,8 Millionen, in Europa maximal 1,5 Millionen Jahre alt. Doch während wir in anderen Kontinenten der Welt bereits andere Spezies wie beispielsweise den Homo erectus antreffen, werden Australien sowie Nord- und Südamerika erst vom modernen Menschen besiedelt. Unklar ist nun, wann und wie die Neue Welt besiedelt wurde, hierüber gibt es eine große fächerübergreifende Diskussion. Die traditionelle Lehrmeinung ist, dass der moderne Mensch über das Gebiet der heutigen Beringstraße und über einen eisfreien Korridor in Nordamerika eingewandert ist. Dies kann aufgrund der klimatischen Verhältnisse nur vor etwa 13.000 Jahren stattgefunden haben.

Allerdings finden wir zu dieser Zeit bereits Fundstellen in Südamerika! Die neue Idee lautet daher, dass sich die modernen Menschen mit kleinen Booten entlang der Küste bewegt haben. Diese Annahme ist allerdings nur haltbar, wenn die Küsten – entgegen unserer bisherigen Annahmen – nie wirklich komplett mit Eis bedeckt waren. Vielleicht waren die Küsten eine Art Mikroumwelt, wodurch die Menschen überleben konnten? Hier gibt es noch großen Klärungsbedarf.

 

Seit wann gibt es Methoden, um das Alter von Fundstücken zu bestimmen? Und wie hat man davor gearbeitet?

Die heute verbreiteten Verfahren existieren erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Die bekannteste ist wohl die Radiokarbonmethode zur Datierung kohlenstoffhaltiger Materialien. Sie sagt zum Beispiel: Diese Pflanze starb vor 35.000 Jahren, plus/minus 2000 Jahre. Es kommen ständig verbesserte Techniken hinzu, aber wir können immer noch nicht alles datieren. Das liegt auch daran, dass wir für die Radiokarbonmethode gut erhaltenes und organisches Material benötigen. Zuvor nutzte man stratigrafische Sequenzierung, verglich den Inhalt der abgelagerten Sedimente, also Funde fossiler Organismen aus verschiedenen Schichten. Das Prinzip ist einfach: Was unten liegt, ist älter. Man spricht auch von relativer Chronologie. Die heutigen Datierungsmethoden können im Idealfall zu absoluten Altersangaben führen. Die kontinuierliche Verbesserung der Datierungsmethoden ist ein wichtiger Bestandteil der heutigen Forschung.

 

Prof. Dr. Katerina Harvati beim Interview: „Paläoanthropologie ist ein interessantes und für uns Menschen bedeutendes Fach!“
Prof. Dr. Katerina Harvati beim Interview: „Paläoanthropologie ist ein interessantes und für uns Menschen bedeutendes Fach!“

Sie beschäftigen sich viel mit der Vergangenheit. Denken Sie auch an die Zukunft und damit, wie die Evolution weiter verlaufen könnte?

Ein spannendes Feld ist da natürlich der Klimawandel – unabhängig von der Frage, ob von den Menschen verursacht oder nicht. Es gab immer wechselnde Klimaperioden und immer hatten sie Einfluss auf die Artenvielfalt. Wir sind ja eine sehr junge Art und hoffentlich haben wir eine gesunde Lebensspanne vor uns – doch es gibt immer wieder die Auslöschung nicht nur tierischer, sondern auch menschlicher Arten. Worüber wir auch nachdenken ist die Frage, in welche Richtung wir uns entwickeln könnten. Wohin gehen wir, wohin führt uns die Evolution?

 

Findet Evolution überhaupt noch statt?

Die Antwort ist ganz klar: ja. Wir haben uns schon immer versucht, uns vor dem natürlichen Ausleseprozess zu schützen. Es geht darum, wie uns unsere Umgebung beeinflusst und uns Umweltänderungen betreffen. Lebewesen brauchen eine biologische Anpassung an ihren Lebensraum. Zum Beispiel kamen die Neandertaler aufgrund ihres Körperbaus mit der Kälte zurecht. Trotzdem konnten sie nicht ohne Kultur, zum Beispiel Feuer oder Kleidung, überleben. Heute geht das viel weiter: Wir haben Häuser mit Zentralheizung und schöne Kleidung – das alles schützt uns. So sind äußere Kräfte, die in der Vergangenheit bedeutend waren, heute weniger wichtig. Dafür betreffen uns andere Dinge: Einige Bevölkerungsgruppen haben sich an die Verdauung von Milch angepasst. Und wer weiß, vielleicht passen wir uns im Moment an Schadstoffe aus der Umwelt an? Das wäre ein bedeutender Selektionsvorteil.

 

Ist das überhaupt noch möglich angesichts der schnellen Entwicklung mit immer neuen Einflussfaktoren?

Die Entwicklung der Milchverträglichkeit ging sehr schnell, innerhalb weniger Tausend Jahre. Natürlich geht es jetzt um kürzere Abstände, aber ich denke, Evolution kann sehr schnell funktionieren. Die Frage ist, ob wir schnell genug Verhaltensweisen und Technologien entwickeln, um uns zu schützen. Darin sind wir eigentlich sehr gut, da können wir optimistisch sein! Nichtsdestotrotz sollten wir alles dafür tun, unsere Umwelt gesund zu erhalten. Aber das ist ein anderes Thema.

 

Seit wann stellen Menschen Fragen über ihre Vorfahren auf die Weise, wie Sie es mit Ihrer Arbeit tun? Ist das verbunden mit moderner Philosophie und der Aufklärung?

Das kann ich nicht vollständig beantworten. Natürlich gab es mit der Aufklärung eine neue Herangehensweise an diese Fragen, aber auch schon Aristoteles hat sich über unsere Vorfahren Gedanken gemacht, die nicht unbedingt religiöser Natur waren. Man könnte die gleiche Frage zur Wissenschaft im Allgemeinen stellen: Seit wann gibt es sie in ihrer modernen Form? Seit wann wir nach Fossilien und anderen „Beweisen“ suchen, ist eine andere Frage und ich glaube, das begann mit dem evolutionären Denken und dem ersten bedeutenden Fund eines menschlichen Fossils – hier in Deutschland, bei Düsseldorf, gefunden drei Jahre vor der Veröffentlichung von Darwins On the Origin of species 1859. Ich würde sagen: Das war der Anfang der Paläoanthropologie.

 

Frau Professor Harvati, vielen Dank für das Gespräch!


Über die Interviewte

Prof. Dr. Katerina Harvati stammt aus Athen (*1970) und hat an der Columbia University in New York sowie an der City University of New York studiert (PhD). Sie hat am American Museum of Natural History und als Juniorprofessorin an der New York University gearbeitet. 2004 kam sie nach Deutschland, nach fünf Forschungsjahren am Max-Planck-Institut Leipzig ist sie seit 2009 Professorin und Leiterin des Forschungsbereichs Paläoanthropologie an der Universität Tübingen.