Vom Filmvorführer zum Play-Drücker

Seit den Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts ist die in Kinos zum Einsatz kommende Technik einem permanenten Wandel unterworfen. Die erst in den letzten Jahren aufgekommene Digitalisierung stellt hierbei eine Zäsur dar, welche hinter den Kulissen eine Umstrukturierung der bisherigen Arbeitsweisen zur Folge hat. Dies betrifft insbesondere den Beruf des Filmvorführers.

Von Lukas Feilen

Erstveröffentlicht in Faktor14 Ausgabe 6


Ein Kinosaal irgendwo. Die Zuschauer nehmen bei gedämmtem Licht und seichter Musik auf ihren Sesseln Platz. Der Filmvorführer lässt das Licht im Saal langsam erlöschen, schaltet den Ton um und öffnet den Vorhang. Der Projektor beginnt zu rattern. Konzentriertes Licht durchbricht den dunklen Raum. Erste, noch leicht flackernde Bilder zeigen sich auf der Leinwand. Während die Zuschauer in eine andere Welt eintauchen und den Arbeitsalltag hinter sich lassen, beginnt dieser für den Filmvorführer erst: Im Vorführraum ist er damit beschäftigt, für einen reibungslosen Ablauf der Vorstellung zu sorgen und das weitere Programm vorzubereiten.

 

Dieser Ablauf, der einst so selbstverständlich zum Lichtspielbesuch dazugehörte, hat mit dem Tagesgeschäft in den Kinos von heute nur noch wenig zu tun. In deutschen Kinos lässt sich seit mehreren Jahren ein Wandel beobachten.

 

Seitdem die Brüder Auguste und Projektoren kein Filmmaterial mehr Louis Lumière 1895 mit ihrem Cinematographen die erste öffentliche Filmvorführung veranstalteten, haben sich die Kinos und ihre Technik stark verändert. Das Format des 35mm-Films blieb trotzdem bis vor einigen Jahren das meistgenutzte. Die 35mm breiten Filmstreifen spielen 24 Bilder in der Sekunde ab und werden auf fünf Spulen – für jeden Akt eine Spule – an die Kinos geliefert. In den Kinos bereiten Filmvorführer dann die Kopien vor, indem sie alle Akte zusammenkleben und auf eine einzelne Spule aufrollen. Von dieser Spule wird bei der Vorführung der Film durch den Projektor gezogen, der die Bilder auf die Leinwand wirft – dadurch entsteht ein lautes Rattern.

 

Digital ersetzt analog, Festplatten ersetzen Film

Anders als bei den 35mm-Projektoren, die den Film von einer Spule aus abspielen, läuft durch die digitalen Projektoren kein Filmmaterial mehr hindurch. Die Spulen werden durch Festplatten ersetzt, deren Inhalt auf den Server der einzelnen Kinos überspielt und von dort wiederum Mittels eines Datenkabels an den Projektor übertragen wird. Dort kann, wie bei einem Computer, an einem Terminal eine Playlist erstellt werden, die nicht nur den Vorspann und den Film wiedergibt, sondern auch Licht, Musik und Vorhang steuert. Da der Betrieb des Projektors einer Temperatur unter 26 Grad bedarf, kommen Klimaanlagen und Lüfter zum Einsatz, damit der Projektor nicht beschädigt wird.

 

Mit der Einführung und Nutzung dieser neuen Technik wandeln sich von der Herstellung des Films bis zu seiner Wiedergabe im Kino fast alle bisherigen Arbeitsweisen. In deutschen Kinos waren nach Angaben der deutschen Filmförderungsanstalt bereits 2011 49% aller Kinosäle digitalisiert und bis Ende des Jahres 2013 sollen alle neuen Kinofilme nur noch in digitaler Form in den Kinos vorgeführt werden. Dies zeigt deutlich die Intention der Produktionsfirmen, Verleiher und Kinobesitzer, alle Kinos zu digitalisieren. Dieser Wandel ist bisher nur unter betriebswirtschaftlichen, technischen oder ästhetischen Aspekten untersucht worden. Die Einführung neuer Technik, im konkreten Fall die Projektions-Technik, bedeutet jedoch eine weitreichende Veränderung für die Filmvorführer. Welche Bedeutung hat die Einführung neuer Technik für Angestellte in ihrem Arbeitsalltag?

 

Die Arbeitswelt befindet sich in einem stetigen Wandel, wobei Technik eine wichtige Rolle spielt. In der Empirischen Kulturwissenschaft werden technischer Wandel und der Arbeitsalltag weitgehend voneinander getrennt untersucht – es gibt im Fach kaum theoretische Bestrebungen, diese beiden Phänomene miteinander in Beziehung zu setzen. In der Arbeitskulturenforschung gibt es mit dem Konzept der Entgrenzung lediglich eine analytische Kategorie, welche diese Dimension in Ansätzen zum Gegenstand hat. Im Mittelpunkt stehen darin Auswirkungen des Wandels auf Arbeitsabläufe, Arbeitsalltag und Lebenswelt. Wenn Transformationen im Arbeitsalltag umfassend beschrieben werden sollen, ist es jedoch unumgänglich, die genutzte Technik mit zu berücksichtigen.

 

In meiner Bachelor-Arbeit über die Bedeutung der Umstellung von analoger auf digitale Technik für Filmvorführer habe ich, unter anderem, den Versuch unternommen, diese beiden Bereiche der Technik und des Arbeitsalltags zusammenzuführen und zu zeigen, wie die Veränderung des einen auf das andere einwirkt. Der Arbeitsalltag der Vorführer ist fast ausschließlich vom Umgang mit der Technik, welche die Filme auf die Leinwände projiziert, bestimmt und durch die Digitalisierung einem großen Transformationsprozess unterworfen. Um diesen möglichst nah an ihrer Wahrnehmung und ihren Erfahrungen beschreiben zu können, habe ich mit Filmvorführern mehrerer Programmkinos im Landkreis Tübingen qualitative Leitfadeninterviews geführt. Dies ermöglichte mir einerseits die konkreten, praktischen Veränderungen des Arbeitsalltags zu erfassen und mir andererseits das sich daraus verändernde Selbstverständnis der Filmvorführer zu erschließen.

 

In der Befragung wurden hinsichtlich des Arbeitsalltags insbesondere zwei Aspekte deutlich: Arbeitsumfang und Arbeitsqualität. Zum einen entfallen durch die neue Technik viele Aufgaben, die von den Vorführern als fordernd und anspruchsvoll oder als zeitaufwändig beschrieben wurden, wie die Vorbereitung der Filmspulen. Die Arbeiten, bei denen die Vorführer mit der alten Projektionstechnik noch mehrere Tage in der Woche beschäftigt waren, werden durch die digitalen Projektoren automatisiert. Diese können einen Großteil der Arbeitsabläufe übernehmen, die damit dem Vorführer entzogen werden. Gleichzeitig fallen kaum neue Aufgaben an. Solche, wie die Reinigung der Lüftungsanlage und das Putzen des Vorführraums, stellen für die Befragten keine äquivalenten Handlungen zur Vorführung eines 35-MillimeterFilms dar. In Konsequenz entsteht während der Arbeit ein zeitlicher Freiraum, welcher kaum zu füllen ist.

 

Immer „mit einem Ohr beim Projektor“

Zum anderen sind durch die technische Komplexität der digitalen Projektoren nur sehr bedingt eigene Handlungsoptionen bei möglichen Fehlern gegeben. Durch die Auslagerung von Reparaturen und Wartung an externe Dienstleister verlieren die Filmvorführer ein weiteres Betätigungsfeld. Aus den Schilderungen des Umgangs mit dem Projektor wird außerdem eine Fremdheit gegenüber der neuen Technik deutlich: Die Vorführer sehen die Technik als „Mysterium“, dessen Funktionsweise kaum nachvollziehbar ist. Analoge und digitale Projektoren gleichen sich nur in ihrem Nutzen, Filme abspielen zu können. Die Funktion unterscheidet sich jedoch grundlegend. Die Nutzung der digitalen Projektoren gleiche nicht der „Handarbeit“ am 35-Millimeter-Projektor, sondern der eines Computers – einem Kasten, bei dem man die Prozesse nicht beobachten, geschweige denn nachvollziehen kann. So beschreiben die Filmvorführer zum Beispiel, dass sie sich früher während einer Vorstellung am Rattern des Projektors orientieren konnten. Sobald sich das Geräusch veränderte wussten sie, dass etwas nicht stimmt. Dadurch, dass sie immer „mit einem Ohr beim Projektor“ waren, konnten sie sich auch anderen Aufgaben widmen. Die neuen digitalen Projektoren erzeugen ein monotones Rauschen, das sich nicht verändert und keine Möglichkeit bietet, anhand des Gehörs die Funktion zu überprüfen. Während der Vorstellungen müssen sie nun mehrmals Kontrollblicke auf das Display des Projektors werfen, um sicherzugehen, dass alles funktioniert.

 

„Man ist kein Filmvorführer mehr, man ist Play-Drücker“

Ausgehend von diesem veränderten Arbeitsalltag und Verantwortungsbereich ändert sich das Selbstverständnis der Vorführer. Die Umstrukturierungen haben zur Folge, dass von den Befragten häufig der Sinn ihrer Anwesenheit während der Vorstellung und der ihrer Berufsgruppe an sich in Frage gestellt wird. Zwar haben sie auf dem Papier noch die Hauptverantwortung für die Vorführung, sehen diese jedoch zunehmend beim Projektor. Durch die Automatisierungsprozesse wird Zufriedenheit im Arbeitsalltag nicht mehr über eine gelungene Vorführung erreicht, weil die Technik alles übernimmt. Man sieht hieran, wie sehr berufliche Identität und Selbstverständnis auch aus der Aushandlung der Bedeutung, dem Umgang mit und dem Gewohnt sein von Technik resultieren, wie ein Vorführer beschreibt: „Es ist eine Sache, bei der du dir ziemlich sinnlos vorkommst. Also dein Existenzgrund wird jeden Tag in Frage gestellt, wenn du ihn [den Vorführraum] betrittst und die Maschinen anmachst.“ Das Gefühl von Sinnlosigkeit am Arbeitsplatz durch Mangel an Aufgaben, durch Automatisierung sowie Fremdheit im Umgang mit der neuen Technik wandelt das Selbstverständnis dahingehend, dass Berufsbezeichnung und Berufsidentität immer weiter auseinanderklaffen und sich die Filmvorführer gar nicht mehr als solche wahrnehmen. Entscheidend hierbei ist, dass die ehemaligen identitätsstiftenden Arbeitsroutinen mit den neuen Arbeitsprozessen abgeglichen werden, wobei letztere abstrakt und sinnentleert wirken.


INFO: Entgrenzung

Der Begriff der Entgrenzung kommt aus dem Kontext jüngerer Globalisierungsdebatten und bezieht sich ursprünglich auf die Auflösung nationaler Grenzen. In den Sozialwissenschaften wird der Begriff genutzt, um Grenzverschiebungen auf weiteren Ebenen zu beschreiben. Entgrenzung wird als sozialer Prozess verstanden, in dem sich etablierte Strukturen wandeln oder auflösen. In der Arbeitskulturenforschung wird das Konzept genutzt, um zentrale Phänomene des Wandels von Arbeit und Arbeitskulturen zu fassen. Darunter fallen beispielweise Flexibilität der Arbeitszeiten, neue Beschäftigungsformen oder technische Innovationen am Arbeitsplatz.


Es entfallen mehr Anforderungen als dass neue entstehen

Es ist davon auszugehen, dass die Digitalisierung zu einer umfassenden personellen Umstrukturierung in den Kinos führen wird. Bisher wurden in den Kinos der Befragten aber noch keine Konsequenzen gezogen. Durch die Automatisierung ist die dauerhafte Präsenz eines Filmvorführers jedoch nicht länger notwendig. Neu eingelernte Filmvorführer werden grundsätzlich nur noch als Aushilfen eingestellt, und der Umgang mit dem 35-Millimeter-Projektor wird ihnen – nachvollziehbarerweise – gar nicht mehr beigebracht. Es kommt lediglich darauf an zu wissen, wie man Playlists erzeugt, und im richtigen Moment auf „Play“ zu drücken.

 

Da diese Ergebnisse meiner Bachelor-Arbeit aus den Aussagen von fünf Filmvorführern – bundesweit natürlich nur ein kleiner Teil – resultieren, kann ich schwerlich einen Ausblick für die Zukunft des Berufs wagen. Die neuen Arbeitskulturen, die sich durch die Digitalisierung der Kinos ausbilden, reagieren auf die geänderten Anforderungen. Im Fall der Filmvorführer entfallen mehr Anforderungen als dass neue entstehen. Trotz der vielen als negativ empfundenen Veränderungen bleibt aus der Sicht meiner Interviewpartner immerhin die Notwendigkeit, keine Berührungsängste mit Technik zu haben.


Zum Autor

Lukas Feilen, hat in Tübingen Empirische Kulturwissenschaft und Rhetorik im Bachelor studiert. Als begeisterter Cineast hat er beim Tübinger Filmfestival CineLatino gearbeitet und ethnographische Filmreihen am Ludwig-Uhland-Institut veranstaltet. Zum Wintersemester 2013 begann er seinen Master in der Empirischen Kulturwissenschaft.