Völlig losgelöst von der Erde

... schwebt Niklas mit Zellkulturen durch die Lüfte Frankreichs und Svenja schickt sie ins All. Die beiden möchten herausfinden, was in Pflanzenzellen passiert, wenn sich der Faktor der Schwerkraft verändert.

von Svenja Fengler & Niklas Hausmann

Erstveröffentlichung in Faktor14 Ausgabe 8


Erfolgreicher Start des chinesischen Raumschiffs Shenzhou-8 vom Weltraumbahnhof Jiuquan in der Inneren Mongolei.
Erfolgreicher Start des chinesischen Raumschiffs Shenzhou-8 vom Weltraumbahnhof Jiuquan in der Inneren Mongolei.

Tausend Dinge im Kopf: das Referat nächste Woche, die Seminararbeit, die zehn noch zu absolvierenden Praktika, der Besuch bei Oma, die Abschlussklausuren Ende des Semesters, der WG-Putzdienst, . . . – ach egal, denn heute Abend steigt die Party. Aber selbst wenn es gelingen sollte, dort alles für einen kurzen Moment vergessen zu machen und sich völlig frei zu fühlen, dann ist da immer noch etwas, dass dafür sorgt, dass du schön auf dem Boden der Tatsachen bleibst: die Schwerkraft.

Auch wenn die Schwerkraft für den Menschen keinen bemerkenswerten Stressfaktor darstellt, so reizt sie Pflanzen durchaus. Sie stellt wie andere Umweltbedingungen (z. B. Temperatur- und Lichtbedingungen oder Fraßfeinde) einen Reiz dar, der das Pflanzenwachstum wesentlich beeinflusst. Beispielsweise orientiert die Pflanze ihren Spross entgegen der Schwerkraft (negativ-gravitropes Wachstum), um ihre photosynthetisch aktiven Organe optimal zu positionieren. Wurzeln wachsen meist Richtung Erdmittelpunkt (positiv-gravitrop) und verankern das Gewächs im Erdboden. Dieses Phänomen bezeichnet man auch als „Gravitropismus“.

 

Doch woher wissen Pflanzen, wo oben und unten ist?


Im Laufe der Jahre kursierten viele Theorien, die versuchten, dieses Phänomen zu erklären. Die Stärke-Statolithen-Theorie beschreibt die Wahrnehmung des Schwerkraftreizes in spezialisierten Zellen der Wurzelhaube, den Columellazellen. Besagte Zellen enthalten mit Stärke gefüllte Zellorganellen (Statolithen), die Informationen über die Lage im Raum an die Pflanze senden. Cholodny und Went postulierten zudem die Beteiligung des Wachstumshormons Auxin. Durch Aufbau eines Auxingradienten, mit Anreicherung auf der Wurzelunterseite, erfolgt die Krümmung der Wurzel entlang dem Schwerkraftvektor. Das
Zug-Druck-Modell beschreibt, dass der Protoplast der Zelle bei veränderter Lage Spannungen auf Cytoskelettbestandteile ausübt. Dadurch werden spezielle Kanäle mechanisch geöffnet und Reize dringen von außen in die Zelle.

 

Bis zum heutigen Tag konnten die Theorien bestätigt und ausgebaut oder teilweise widerlegt werden. Dadurch haben die Forscher viel Wissen über Schwerkraftwahrnehmung in Pflanzen und Tieren erworben. Letztendlich sind die Organismus-spezifischen Prozesse jedoch noch nicht vollständig entschlüsselt.

 

Unsere Forschungsarbeit

An diesem Ausgangspunkt beginnt unsere Forschungsarbeit in Tübingen. Wir wissen, dass der Schwerkraftreiz von der Pflanze wahrgenommen und intrazellulär in ein biochemisches Signal umgewandelt wird. Dieses Signal wird in Sekundenschnelle mit Hilfe von sekundären Botenstoffen wie Calcium oder reaktiven Sauerstoffspezies (H2O2, O2-) zum Ort des Geschehens, dem Zellkern, geleitet. Dort wird die Expression bestimmter Gene hoch- oder runterreguliert. Die Transkripte werden aus dem Kern ins Cytoplasma geschleust, wo die Proteinbiosynthese stattfindet. Die synthetisierten Proteine können entweder in den Kern zurückwandern, um downstream (=nachgeschaltete) Gene zu regulieren, oder Cytoplasmaproteine modifizieren (z. B. durch Phosphorylierung) und weitere Signalkaskaden in Gang setzen. Am Ende kommt es schließlich zu einer Veränderung in der Physiologie oder Morphologie der Pflanze, mit dem Bestreben, eine passende Reizantwort zu generieren und eine erhöhte Reiztoleranz, also eine bessere Anpassung an die Umweltbedingungen, zu erwerben.

Das Ziel unserer Doktorarbeiten ist es, der Reiz-Antwort-Kette (siehe Schema) auf die Schliche zu kommen, die die Zelle in Gang setzt, wenn sich der Faktor Schwerkraft verändert

Will man die Auswirkung der Gravitation auf die Genproduktion der Zelle untersuchen, muss der Faktor g (er beträgt auf der Erde 1) verändert, d.h. verringert, erhöht oder komplett ausgeschaltet werden.

 

Zu welchem Zweck erforscht man die Auswirkungen der Gravitation auf Organismen?


Zum einen kann Forschung in Schwerelosigkeit in Kombination mit Bodenversuchen Antworten auf essentielle Fragen der Grundlagenforschung liefern. Je mehr über gravitationsabhängige Prozesse innerhalb von Pflanzenzellen aufklärt werden kann, desto besser können grundlegende Vorgänge auf unserer Erde verstanden werden. So wird durch Wegnahme der Schwerkraft erst sichtbar, welche Prozesse durch Schwerkraft gesteuert werden. Auf der anderen Seite gewinnen die Forscher bedeutende Informationen darüber, ob sich Pflanzen an eine schwerelose Umwelt adaptieren und im All oder auf anderen Planeten kultiviert werden können. Im Hinblick auf zukünftige Langzeitmissionen sollen Pflanzen als Nahrungsquellen und Sauerstofflieferanten dienen.

 

Für unsere Experimente verwenden wir Zellkulturen von einem Modellorganismus namens Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand), ein unauffälliges Unkraut auf unseren Feldern, dessen Genom vollständig entschlüsselt werden konnte und sich deshalb optimal für unsere Versuche eignet.


Um unser Forschungsobjekt unter- schiedlichen Schwerkraftwerten auszusetzen, müssen Experimente besonderer Art durchgeführt werden: deshalb vorerst raus aus dem Labor und rein in Flugzeug und Raumschiff.

Der Parabelflug: Schon mal Sinuskurven geflogen?


Parabelflüge wurden früher hauptsächlich für das Schwerelosigkeitstraining von Astronauten genutzt. Heutzutage ist es eine Möglichkeit, wissenschaftliche Experimente unter Mikrogravitation (Schwerelosigkeit) durchzuführen. Die französische Firma Novespace bietet Parabelflüge an, die vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR), der französischen Raumfahrtagentur CNES oder von der europäischen Weltraumorganisation ESA genutzt werden. Da das Ganze meistens in Frankreich stattfindet, liegen die Fluggebiete entweder über dem Atlantik oder dem Mittelmeer. Ein Parabelflug besteht aus drei Flugtagen mit jeweils 31 aufeinander folgenden Parabeln und dauert ca. drei Stunden.

Arbeit in der Schwerelosigkeit
Arbeit in der Schwerelosigkeit
Phasen eines Parabelfluges
Phasen eines Parabelfluges

Dabei steuert das Flugzeug die Flugbahn einer Sinuskurve an. Am Anfang beschleunigt das Flugzeug aus horizontalem Flug (6100 m) und steigt dann in einem 47-Grad-Winkel und einer vertikalen Beschleunigung von 1,8-facher Erdanziehung auf 8500 m.

 

Dann drosselt der Pilot die Schub- kraft und es folgt für 22 Sekunden Schwerelosigkeit. Nach Abfangen des Flugzeugs und wiederum erhöhter Schwerkraft normalisiert sich alles in horizontalem Flug. Doch vor dem Erlebnis der Schwerelosigkeit steht ein langer Weg.

 

Vor der Teilnahme an einer solchen Parabelflugkampagne bedarf es einer sorgfältigen Planung des gesamten Vorhabens. Es fängt mit der genauen Beschreibung und Durchführungspla- nung der biologischen Experimente an: Was soll gemacht werden und welchen Hintergrund hat die Forschung? Dann folgt der Teil des Antragschreibens in der Hoffnung, dass man ausgewählt wird. Es gibt viele verschiedene Forschergruppen, die an einem solchen Parabelflug teilnehmen wollen, wie z. B. Teilbereiche aus Medizin, Physik und Maschinenbau, bis hin zu Geowissenschaften oder Biologie. Zählt man zu den Auserwählten, müssen spezielle Auflagen erfüllt werden, um die Sicherheit aller Teilnehmer eines Fluges zu gewährleisten. Dafür werden extra an die Bedürfnisse des Experimentators angepasste „Racks“ gebaut. Dies sind meist von einer Werkstatt maßgefertigte Aluminium- gerüste, in die unsere Analysegeräte eingebaut und später im Rumpf des Flugzeugs montiert werden.

 

Liebevoll nennt man das Flugzeug auch „Kotzbomber“. Eine Stunde vor dem Start bekommt man eine Spritze mit einem Mittel, das beruhigend und hemmend auf das Brechzentrum im Gehirn wirkt. Die vegetativen Reaktionen wie Schwindel, Kreislaufstörungen und Übelkeit sollen damit während des Parabelfluges unterdrückt werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt macht man sich ein wenig Gedanken, worauf man sich eingelassen hat.

 

Nach dem Starten des Flugzeugs wird man zudem sehr müde und bekommt einen trockenen Mund als Nebenwirkungen des Medikaments. Aber sobald die Anschnallzeichen erloschen sind, können wir die Sitze verlassen und die Computer und Analysegeräte einschalten. Alles wird nun für den Beginn der ersten Parabel vorbereitet. Dann ertönt auch schon die Ansage: „First Parabola in ten minutes“. Der Countdown läuft. „One minute“. Okay, alles bereit. Die Nervosität steigt. „Twenty seconds“. Nicht vergessen, das Messgerät zu starten. Wir wollen ja Daten über die ganze Parabel erhalten. Am Boden im Flugzeug sind rote Zurrgurte angebracht worden, mit denen sich die Experimentatoren sichern können, um nicht selbst davon zu schweben. Bald hören wir über den Lautsprecher „Pullup“, das Zeichen für den Steigflug. In dieser Phase wirkt das 1,8-fache der Erdbeschleunigung auf den Körper. Dabei ist es wichtig, nicht den Kopf zu bewegen, da sonst der Gleichgewichtssinn durcheinander gerät. Dann folgt „injection“ und der Zustand von Schwerelosigkeit für 22 Sekunden. In dieser Zeit werden die meisten Experimente durchgeführt. Nach der Phase der Mikrogravitation erfolgt wieder eine Phase erhöhter Schwerkraft und anschließend normalisiert sich alles. Wir stoppen zu jeder Phase veränderter Schwerkraft Zellkulturen der Ackerschmalwand mit Hilfe eines chemischen Mittels ab. So können wir die unterschiedlichen Zellzustände „einfrieren“
und für spätere Analysen an der Universität sichern.


Neben diesen Parabelflügen haben wir auch schon eine Weltraummission hinter uns, um zu testen, wie die Zellkulturen reagieren, wenn sie mehrere Tage der Schwerelosigkeit ausgesetzt sind.

Die Simbox-Hardware, Made in Germany
Die Simbox-Hardware, Made in Germany

Die Reise des „Götterschiffs“ — Zellkulturen im All


Am 31. Oktober 2011 um 22.58 Uhr MEZ startet die unbemannte, chinesische Raumkapsel Shenzhou-8 („Götterschiff “) mit einer Trägerrakete vom Typ „Langer Marsch“ vom chinesischen Weltraumbahnhof Jiuquan (Mongolei) in den Orbit. An Bord befindet sich ein in Friedrichshafen konstruierter Inkubator (Simbox = Science in Microgravity Box). In seinem Inneren beherbergt er 40 Zigarettenschachtel-große Kontainer (auch Module genannt) auf einer Plattform. Die Flugmodule sind Teil von 17 deutschen und chinesischen Experimenten mit Pflanzen, Tieren und Zellen des humanen Immun- und Nervensystems.


Nach zwei Tagen Flug dockt Shenzou schließlich an die chinesische Raumstation Tiangong-1 („Palast des Himmels“) an und verbringt 20 Tage im Weltall, bevor die Kapsel wieder auf der Erde landet. Die Simbox wird danach mit einem Helikopter geborgen und zur Basis transportiert.

 

Das Weltraumdebüt der Simbox im Rahmen eines Kooperationsprojekts zwischen Deutschland und China fordert von allen Beteiligten enorme Planung, Organisation und Ausdauer, um einen reibungslosen Ablauf zu sichern. Während der Mission stehen Probleme mit Zollbehörden und Militär, Verzögerungen und Stromausfälle auf der Tagesordnung und fordern die Forscher täglich neu heraus.

 

Zurück im heimischen Labor beginnt die molekularbiologische Arbeit mit den geflogenen Zellen. Für die anstehenden Gesamtgenom-Analysen analysieren wir die Proben mit Hilfe eines Mikrochips. So können wir aus dem gesamten Arabidopsis-Genom Gene identifizieren, die unter Schwerelosigkeit eine spezifische Reaktion zeigen.

 

Welche Aufgaben die identifizierten Gene im Netzwerk der Reaktion auf Langzeit-Schwerelosigkeit übernehmen und welche Gene für die Anpassung verantwortlich sind, wird das nächste Forschungsjahr zeigen. Wir bereiten derweil bereits neue Forschungsmissionen vor. Die Experimente erfodern sorgfältige Vorbereitung und Entwicklung. Dabei gilt es, die Arbeit vieler Wissenschaftler, Organisatoren und Ingenieure zu koordinieren, damit am Tag der Versuchsdurchführung alles bereit ist.


Zu den Autoren

Svenja Fengler und Niklas Hausmann haben Biologie (Dipl.) studiert. Sie befassen sich in ihrem Promotionsvorhaben mit dem Thema der „Schwerkraftabhängigen Gen- und Proteinregulation in Arabidopsis thaliana“ am Lehrstuhl Physiologische Ökologie der Pflanzen (Prof. Dr. Rüdiger Hampp) am Interfaktultären Institut für Mikrobiologie und Infektionsmedizin. Finanziert wird das Projekt vom Deutschen Zentrum für Luft-und Raumfahrt (DLR).